Immer wieder hört man von der ominösen Work-Life Balance und liest so manchen Artikel oder Ratgeber darüber, wie man nun endlich sein Leben in den Griff kriegt, um Berufs- und Privatleben auszubalancieren. Auf Instagram wird einem dann noch suggeriert, dass alle anderen bereits ein tolles Leben haben und man selber der Einzige ist, der noch im Alltag hängen geblieben ist.
Zurück zur Realität
Natürlich wäre es toll, wenn wir ein ausgeglichenes Leben hätten. Selten hat das Leben aber darauf gewartet, dass wir eine Aufgabe abgeschlossen haben und konfrontiert uns erst später mit einer weiteren Herausforderung, einem Problem oder etwas Unerwartetem. Wer kennt es nicht, dass oft alles gleichzeitig kommt und man das Gefühl hat, am Ertrinken zu sein.
Im Leben gibt es die Phasen, in denen alles ganz toll läuft, dann solche in denen man einigermassen zurechtkommt und dann noch die Phasen, in denen einfach alles aus dem Ruder läuft. Mit Balance hat das für mich, nicht viel zu tun. Ich glaube auch, dass es praktisch unmöglich ist, dass man alle seine Lebensbereiche aufeinander abstimmen kann, denn irgendein Teil wird immer unter weniger Aufmerksamkeit leiden müssen. Wenn ich mehr Zeit bei der Arbeit verbringe, dann leidet meine Familie, meine Freunde oder mein Hobby darunter. Umgekehrt genau das Gleiche, fallen mehr Stunden zugunsten meiner Familie, leidet unter Umständen die Arbeit, die Freunde oder das Hobby.
Auszeitinseln
Die beiden Bereiche Familie und Arbeit sind bei den meisten von uns fix gesetzt und wir verwenden dafür die meiste Zeit, die uns so spärlich zur Verfügung steht. Allerdings vergessen wir dabei gerne, dass wir auch für uns selber Zeit einrechnen müssen, um einfach mal dem Alltag entfliehen zu können. Ich nenne dies hier mal Auszeitinseln.
Auszeitinseln sind für mich Tätigkeiten, die wir regelmässig während einer Woche machen können, um den Stress im Büro oder zu Hause zu vergessen und so neue Kraft tanken können. Es sind Phasen, in welchen wir uns Zeit für uns nehmen und versuchen uns von Problemen oder schwierigen Situationen abzukapseln, um neue Kraft zu schöpfen. Denn nur mit einem klaren Kopf und emotionaler Ausgeglichenheit können wir auch vernünftige und zukunftsfähige Entscheidungen treffen.
Von diesen Auszeitinseln kann es natürlich ganz viele unterschiedliche geben und sie bedeuten für jeden etwas anderes. Deshalb möchte ich auch gar nicht gross auf mögliche Beispiele eingehen, die mir so in den Sinn kommen, sondern ich will einfach mal schildern, was meine Auszeitinsel ist.
Der Weg der leeren Hand
Die Kampfkunst-Kenner haben schon beim Absatztitel gemerkt, dass es sich bei meiner Auszeitinsel um Karate-Dô handelt. Kara bedeutet «leer», te wird als «Hand» interpretiert und Dô steht für den «Weg», also der Weg der leeren Hand.
Karate begleitet mich intensiv seit fast zwei Jahrzehnten, als ich mit 17 Jahren wieder mit dem Karatetraining angefangen habe, nachdem ich als 9-Jähriger eine Trainingspause eingelegt habe. Seither ist es aber für mich zu meiner wichtigsten Auszeitinsel geworden, in der ich mich komplett vom Alltag loslösen kann. Für andere ist es vielleicht Jogging, Yoga, Badminton oder ein kreativer Kurs. Karate funktioniert für mich so gut als Auszeitinsel, weil es verschiedene Elemente miteinander verbindet, die ich nachfolgend gerne kurz erläutere:
Ausdauer: Andere gehen Joggen oder Velofahren, was auch wunderbar für die Fitness ist und fürs Karate sicher auch zwei sehr gut ergänzende Aktivitäten sind. Allerdings ist auch Karate mit all den Einzel- und Partnerübungen ideal geeignet, um die eigene Fitness zu verbessern. Bewegungen müssen mal langsam oder schnell, aber auch kraftvoll oder relaxt ausgeführt werden. Dies macht das Training einerseits sehr abwechslungsreich, andererseits bedeutet es auch, dass die Muskeln vielschichtig beansprucht werden und sich so die Leistungsfähigkeit des Körpers weiter erhöht.
Kraft: Um die Übungen richtig und präzise ausführen zu können, benötigt man viel Kraft, denn mit einem schwachen Körper hat man mehr Mühe Bewegungen richtig zu koordinieren und so leidet auch das Gleichgewicht darunter. Ein weiterer Aspekt von Kraft ist, dass Schläge und Tritte natürlich viel effektiver sind und so besser für die Selbstverteidigung geeignet sind. Die Maximierung der Kraft eines Schlages oder Trittes hat nicht nur mit der Muskelkraft alleine zu tun. Es ist auch eng verbunden mit der Koordination der Bewegungsabläufe sowie mit der Verbindung entspannter und angespannter Muskeln. Mir macht es sehr viel Spass, herauszufinden, wie ich meinen Körper noch effizienter bewegen kann und es gibt mir auch die Gelegenheit, mich auf meinen Körper zu fokussieren und andere Dinge zu vergessen.
Konzentration: Dies ist ein sehr spannender Aspekt von Karate. Da wir Übungen machen, die ein Zusammenspiel von Schritten, Schlägen, Tritten, Drehungen und manchmal auch Sprüngen erfordern, sind die Anforderungen an einen fokussierten Geist sehr hoch. Wenn man nicht bei der Sache ist, verliert man schnell die Kontrolle über die eigenen Bewegungen und die «perfekte» Form ist dann nicht mehr möglich. Eine hohe Konzentration bedeutet, dass ich mich nicht mit anderen Dingen des Alltags beschäftigen kann. Somit ist dies einer der Hauptfaktoren, warum ich beim Karate-Training so wunderbar vom Alltag entfliehen kann.
Beweglichkeit: Ein beweglicher Körper ist unumgänglich für ein gesundes Leben. Wenn unser Bewegungsapparat zu steif ist, ist die Gefahr von Verletzungen viel grösser. Diesem Element wird deshalb im Karate auch sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet, insbesondere ist dies wichtig, wenn es um Fusstritte oder auch um den Zweikampf geht. Fusstritte sind natürlich mit einer eingeschränkten Beweglichkeit nur zum Teil möglich und man verpasst die Chance weitere Techniken in sein Repertoire aufzunehmen. Ein flexibler Körper ist aber auch beim Kampf notwendig, auch wenn dieser einfach zu Übungszwecken ausgeführt wird. Es ist viel einfacher unterschiedlichen Situationen im Kampf zu begegnen, wenn der Körper die entsprechende Flexibilität besitzt, um entsprechend zu reagieren.
Finde Deine Auszeitinsel
Zum Schluss möchte ich nochmals betonen, wie wichtig es ist, dass Jeder seine eigene Auszeitinsel hat. Sie bietet uns die Gelegenheit Abstand vom Alltag zu nehmen und füllt uns mit Energie, damit wir die Herausforderungen des Alltags meistern können.